18.06.2015
Für akutes Leberversagen, das eine Transplantation notwendig macht (ALFT), ist in einem von sechs Fällen eine Überdosis Paracetamol der Auslöser. Dabei ist die Inzidenz dieses Ereignisses in verschiedenen europäischen Ländern sehr unterschiedlich: Am häufigsten brauchen Patienten in Irland aufgrund von Paracetamol-Falschanwendung eine neue Leber, am seltensten in Griechenland und Portugal. Das ergab eine Studie, die Forscher um Professor Dr. Sinem Ezgi Gülmez von der Universität Bordeaux jetzt im «British Journal of Pharmacology» veröffentlichten.
Die Datengrundlage bildete die SALT-Studie, eine multinationale Populationsstudie auf Initiative der europäischen Arzneimittelbehörde EMA, an der Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, die Niederlande und Portugal teilnahmen. In diesen Ländern kam es von Januar 2005 bis Dezember 2007 zu 600 Fällen von ALFT. 114 davon waren auf Überdosierungen von Arzneistoffen zurückzuführen, und zwar mit Paracetamol (111 Fälle), Opiaten, Ecstasy und Diclofenac plus Eisen (je ein Fall). Meist hatten die Patienten das Arzneimittel dabei in suizidaler Absicht bewusst überdosiert (72 Fälle), lediglich bei zehn Patienten war es ein Versehen gewesen; in den verbleibenden 32 Fällen war die Absicht unklar.
In Irland war die Paracetamol-Überdosierung für jedes zweite ALFT verantwortlich (52 Prozent), wogegen sie in Italien lediglich 1 Prozent ausmachte und in Griechenland und Portugal sogar 0 Prozent, da dort in den drei Jahren kein einziger Fall vorkam. Bezogen auf den Gesamtverbrauch des Arzneistoffs beziehungsweise die Einwohnerzahl bedeutete das ein ALFT pro 20,7 Tonnen Paracetamol in Irland gegenüber einem Fall pro 1074 Tonnen in Italien beziehungsweise 1 pro 286.000 Einwohner in Irland und 1 pro 60 Millionen Einwohner in Italien, jeweils bezogen auf ein Jahr.
Diese enormen Unterschiede zeigten sich jedoch lediglich bei ALFT, die durch Paracetamol-Überdosierung ausgelöst waren. Bezogen auf die insgesamt 81 Fälle, in denen keine Überdosis vorlag, eine dem Auftreten des Leberversagens vorangegangene Paracetamol-Einnahme allerdings einen Kausalzusammenhang nahelegte, fiel die Streubreite sehr viel moderater aus. Sie reichte von 4,1 ALFT-Fällen pro 1 Million Behandlungsjahren in den Niederlanden bis 2,6 in Irland, während wiederum Griechenland und Portugal keinen einzigen solchen Fall zu verzeichnen hatten.
Für Deutschland, das nicht an der SALT-Studie beteiligt war, verzeichnet die UAW-Datenbank des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte im fraglichen Zeitraum insgesamt 71 Verdachtsfälle von Leber- beziehungsweise Gallen-bezogenen Nebenwirkungen, darunter 22 Fälle von (akutem) Leberversagen. Wie hoch der Arzneistoff dabei im Einzelfall dosiert wurde, geht daraus nicht hervor.
Über die Gründe für die großen Unterschiede zwischen den Ländern hinsichtlich der Paracetamol-Überdosierung können die Autoren nur spekulieren. Denkbar wäre, dass in Irland – und Großbritannien, das in der Häufigkeits-Statistik an zweiter Stelle folgte – generell Paracetamol häufiger überdosiert werde als etwa in Italien, was dann eben auch öfter ein Leberversagen nach sich ziehe. Oder die Bevölkerung sei empfindlicher für die lebertoxische Wirkung des Analgetikums, etwa aufgrund genetischer oder sozioethischer Unterschiede, die allerdings momentan nicht erkennbar seien.
Auch Dr. Kay Brune, Pharmakologie-Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg und seit Jahren Verfechter eines restriktiveren Umgangs mit Paracetamol, bezweifelt eine genetische Erklärung für die beobachteten Unterschiede. «Ich glaube beispielsweise nicht, dass Iren sich genetisch so sehr von den Italienern unterscheiden, dass das die Unterschiede erklären würde. Aber es steht beispielsweise fest, dass regelmäßiger Alkoholkonsum die Toxizität von Paracetamol erhöht, vor allem, wenn hochprozentiger Alkohol konsumiert wird, was in Irland sicherlich gebräuchlicher ist als in Italien», sagte er gegenüber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».
Die Autoren der aktuellen Analyse halten eine Reduzierung der Packungsgröße frei verkäuflicher Paracetamol-Präparate auf maximal 8 g Wirkstoff, wie sie etwa in Großbritannien und Frankreich seit einigen Jahren gilt, für eine gute Möglichkeit, Paracetamol-Überdosierungen – ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt – zu vermeiden. In Deutschland dürfen OTC-Präparate seit 2009 nur noch maximal 10 g Paracetamol enthalten. (am)