Kritik an Paracetamol / Eine Pille gefährdet Iren mehr als Italiener

Paracetamol ist ein Alltagsmittel gegen Schmerzen und Fieber – aber auch umstritten. Überdosierungen führen oft zum Leberversagen - allerdings scheint es in Europa große nationale Unterschiede zu geben. Forscher raten zur Rezeptpflicht.

CHRISTINA HUCKLENBROICH, 20.06.2015

Die großen städtischen Krankenhäuser Europas waren Ende des neunzehnten Jahrhunderts vieles in einem: Hospitäler, Versuchslabore, Lehranstalten. Als zwei junge Straßburger Assistenzärzte im Jahr 1884 ihren Chef, den Internisten Adolf Kußmaul, um Rat baten, wie sie mit einem fiebernden, von Eingeweidewürmern geplagten Patienten verfahren sollten, bekamen sie deshalb eine Empfehlung, die eher ein Experiment war als ein ausgefeiltes Therapieschema: Sie sollten dem Schwerkranken Naphthalin geben, das könne den Darm von Würmern befreien. Doch der Mann blieb von Parasiten befallen. Etwas anderes aber erstaunte die Ärzte: Plötzlich sank sein Fieber. Als sie recherchierten, fanden sie heraus, dass die Apotheke sie nicht mit Naphthalin beliefert hatte, sondern mit dem Anilinderivat Acetanilid. „Ein Irrtum mit lange nachwirkenden Konsequenzen“, bilanzierte ein Autorenteam um den Pharmakologen Kay Brune von der Universität Erlangen-Nürnberg Ende vergangenen Jahres im „European Journal of Pain“, wo der historische Fall noch einmal aufgearbeitet wurde (doi:10.1002/ejp.621). Der Straßburger Irrtum war die Geburtsstunde von Paracetamol, das heute als Fiebersenker und Schmerzmittel weltweit verbreitet ist.

Nachdem klar war, dass Acetanilid eine schwere Nebenwirkung mit sich brachte, die zur Sauerstoffunterversorgung führende Methämoglobinämie, wurde das Präparat mehrfach verändert. In den Labors der Jahrhundertwende entstanden diverse Weiterentwicklungen, darunter auch Paracetamol, das seinen globalen Siegeszug aber erst in den fünfziger Jahren antrat. Sein Aufstieg hing maßgeblich damit zusammen, dass Phenazetin, ein anderes früh entwickeltes Derivat des Acetanilid, in der Nachkriegszeit für massenhafte Nierenerkrankungen in der Schweiz gesorgt hatte, wo es bei Frauen zur Mode geworden war, die Pillen zum Nachmittagskaffee einzunehmen wie Bonbons. Paracetamol löste das Skandalpräparat ab und wurde zum neuen Hoffnungsträger unter den Kopfschmerz- und Fiebermitteln.

Leberversagen nach Überdosierung

Doch bis heute kratzen Studien auch am Image dieses Medikaments – vor allem seiner massiven Lebertoxizität wegen. „Viele Experten glauben, dass Paracetamol heute keine Marktzulassung bekommen würde“, schreiben Brune und seine Mitautoren im „European Journal of Pain“. Sie verweisen unter anderem auf neuere Studien, die einen Zusammenhang mit Asthma und verminderter Fruchtbarkeit bei Kindern nahelegen, deren Mütter in der Schwangerschaft Paracetamol genommen haben. Und in diesen Tagen wirft eine weitere Untersuchung einen dunklen Schatten auf das rezeptfreie Alltagsmedikament. Im „British Journal of Clinical Pharmacology“ veröffentlichte ein internationales Autorenteam um die Pharmakologin Sinem Ezgi Gulmez von der Universität Bordeaux gerade die Ergebnisse einer Studie, für die in sieben europäischen Ländern erfasst worden ist, wie oft Lebertransplantationen mit akutem Leberversagen durch Paracetamolüberdosierung zusammenhingen. 600 Fälle akuten Leberversagens, denen eine Registrierung für ein Spenderorgan folgte, verzeichneten die Wissenschaftler in Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Großbritannien und den Niederlanden in den Jahren 2005 bis 2007. 114 davon waren auf Arzneimittelüberdosierungen zurückzuführen, und hier lag Paracetamol bei den Ursachen einsam an der Spitze – mit 111 von diesen 114 Fällen. In etwas mehr als sechzig Prozent der Fälle hatten die Patienten das Medikament klar in suizidaler Absicht überdosiert (doi:10.1111/bcp.12635).

Besonders erstaunlich waren die großen Unterschiede zwischen den Ländern. Durchschnittlich lag die Rate der Lebertransplantationen nach akutem Versagen durch Paracetamolüberdosis bei einem Fall jährlich pro sechs Millionen Einwohner. Doch in Irland war die Rate sechsmal so hoch wie im Durchschnitt aller Länder, in Großbritannien doppelt so hoch. Am niedrigsten war sie in Italien. In Italien erkrankte auch nur eine Person an einer akuten Leberintoxikation pro verkauften tausend Tonnen Paracetamol. In Irland wurden fast fünfzig Menschen pro tausend Tonnen des Mittels zu Transplantationskandidaten, in England zehn Menschen.

Alkohol macht die Pillen riskanter

Die Autoren der im Auftrag der Europäischen Arzneimittel-Agentur (Ema) entstandenen Studie halten sich bedeckt, was mögliche Interpretationen angeht. „Ich kann nur spekulieren“, sagt auch der deutsche Pharmakologe Kay Brune. „Ich glaube beispielsweise nicht, dass Iren sich genetisch so sehr von Italienern unterscheiden, dass das die Unterschiede erklären würde. Aber es steht beispielsweise fest, dass regelmäßiger Alkoholkonsum die Toxizität von Paracetamol erhöht, vor allem, wenn hochprozentiger Alkohol konsumiert wird, was in Irland sicherlich gebräuchlicher ist als in Italien.“ Die regelmäßige Alkoholzufuhr induziert bestimmte Enzymsysteme, so dass mehr toxische Metaboliten von Paracetamol gebildet werden. Auch Ernährungsgewohnheiten könnten einen Einfluss auf die Toxizität des Mittels haben, sagt Brune. „Und regelrechte Hungerkuren, wie sie junge Frauen manchmal machen, setzen die Risiken der Paracetamoleinnahme auch herauf.“

Auch andere kulturelle Faktoren werden seit langem international diskutiert, etwa Packungsgrößen oder die Rezeptpflicht. In Deutschland ist Paracetamol nach wie vor rezeptfrei erhältlich. Anfang 2009 wurde die maximale verschreibungsfreie Packungsgröße auf zehn Gramm Paracetamol beschränkt. Kay Brune hat allerdings schon vor vier Jahren beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) den Antrag gestellt, Paracetamol ganz aus der Rezeptfreiheit herauszunehmen. Er war damals Mitglied im Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht des Bundesinstituts. „Das wurde abgelehnt, obwohl schon damals Handlungsbedarf bestand“, sagt Brune heute. Die Rezeptpflicht hält er noch immer für einen Schritt in die richtige Richtung. Er würde allerdings noch weiter gehen: „Die Substanz gehört überhaupt nicht in die Therapie und müsste ganz verschwinden.“ Bis dahin sei es wichtig sicherzustellen, „dass die Mehrheit der Bevölkerung überhaupt weiß, dass das Mittel gefährlich ist“.

Enges Zeitfenster

Tückisch ist eine Paracetamol-Überdosierung vor allem, weil das zeitliche Fenster, in dem man Betroffene retten kann, so klein ist. „Am Tag nach der Einnahme, an dem das Gegenmittel noch wirken würde, geht es den Betroffenen meist noch gut“, sagt Brune. „Am dritten und vierten Tag dann entstehen eine Gelbsucht und schwere Verdauungsstörungen, die Leber zerfällt, der Patient wird schließlich komatös. Ein Rettungsfenster bieten nur der erste und frühe zweite Tag. Danach bleibt nur die Lebertransplantation.“ Das Gegenmittel ist N-Acetylcystein, es wird oral oder intravenös verabreicht. N-Acetylcystein stimuliert die Synthese von Glutathion, das für die Entgiftung der toxischen Zwischenprodukte notwendig ist. Bei einer Paracetamolüberdosierung sind die natürlichen Glutathionreserven rasch aufgebraucht.

Beschränkungen bei der Art der Ausgabe des Medikaments halten auch Experten von Giftnotrufzentralen für hilfreich. „Suizidversuche sind oft Reflexhandlungen“, sagt etwa Daniela Acquarone vom Giftnotruf der Charité in Berlin. „Und zehn Gramm Paracetamol sind je nach körperlicher Konstitution und Risikofaktoren schon hochtoxisch. Eine reduzierte Packungsgröße könnte deshalb sinnvoll sein.“ Beim Giftnotruf der Charité rufen zudem oft Eltern an, weil sie besorgt sind, wenn Kinder etwa über zwei bis drei Tage wegen fieberhaften Infekten das Mittel bekommen und es möglicherweise zu Überdosierung gekommen ist, beispielsweise weil Mutter und Vater das Medikament unabhängig voneinander verabreicht haben. Die Toxizität von Paracetamol sei bei der wiederholten Applikation deutlich höher und die Befürchtung einer möglichen Überdosierung berechtigt, sagt die Toxikologin Acquarone. Ob sich aber in absehbarer Zeit etwas an der Handhabung des umstrittenen Medikaments ändern wird, ist ungewiss. Vertreter des BfArM haben bereits mehrfach argumentiert, dass man Verbraucher zwar besser vor den Risiken schützen wolle, die von frei verkäuflichen Schmerzmitteln ausgehen, dass es aber auch nicht zumutbar sei, bei jedem kleinen Infekt zum Arzt gehen zu müssen, um ein solches Präparat zu bekommen.